Stell dir vor, du kommst zum Flughafen und erfährst, dass du nicht heimkannst, weil in Deutschland keine Flugzeuge landen dürfen. Du sitzt in USA auf deinem gepackten Koffer, hast kein Nachtquartier mehr und sollst anderntags in der Heimat Termine wahrnehmen. Wer erlebt hat, wie deutsche Streiks im Ausland Unbeteiligte schädigen, kann sich über die Tarifkämpfe nicht mehr freuen, auch wenn er oder sie noch so arbeitnehmerfreundlich denkt.
Natürlich reist man heute mit modernen Medien und erfährt nicht erst am Flughafen, dass man ausgebremst ist, auf unbequeme Alternativen umbuchen muss. Trotzdem kostet das Nerven und bringt Nachteile. Wie hoch darf das Opfer „Unbeteiligter“ sein, damit die Flugsicherung auf deutschem Boden besser arbeiten kann oder die Piloten mehr in der Lohntüte haben?
Über diese Zumutbarkeit habe ich noch nirgendwo etwas gelesen. Doch mit wem ich auch darüber spreche: Die Umverteilung von Reich nach Arm wird durch solche Streiks nicht verbessert. Und dies sollte doch endlich zu fruchtbaren Bemühungen führen! Nach mehr als 40 Jahren Gewerkschaftsmitgliedschaft habe ich leider wenig Hoffnung, dass wir geeignete PolitikerInnen an die Schaltstellen der Macht bringen, die diesem Gedanken trotz aller Verflechtungen und Verpflichtungen zum Durchbruch verhelfen.
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Drei Monate Rundreise in Schweden, Norwegen und Finnland. Als mir Freunde von dem Vorhaben erzählten, dachte ich nicht an Fjorde, Elche, Denkmäler. Vielmehr fragte ich mich, ob das an ihrer Verwurzelung rührt und was es mit ihren sozialen Beziehungen macht. „Einsamkeit“ kam mir als Stichwort in den Sinn bzw. ein Zurückgeworfensein auf sich selbst und seine Begleitung. Dazu muss man andere Fähigkeiten entwickeln als im Alltag zu Hause mit seinen festen Ritualen und Pflichten.
Was sagt Uta dazu, die in Südeuropa die Herausforderungen einer Langzeit-Tour erlebt hat und demnächst wieder losfährt?
Schon der Einstieg ins Wohnmobil setzt ein Gefühl von Freiheit frei: „Es geht los!“ Einfach herrlich die Gewissheit, nun zehn Wochen Zeit zu haben. Das Brummen des Motors und die gemütliche Reisegeschwindigkeit lösen in mir eine Freude aus, die ich kaum beschreiben kann. Loslassen können, sich jeden Tag auf das Unbekannte einlassen, weg vom Wohnsitz, dem Bekannten, Berechenbaren. Mit unserem elf Quadratmeter rollenden „Minihaus“ fahren wir Neuem entgegen. Wir haben eine klare Richtung, aber keine feste Route, lassen uns gerne treiben, finden ein lauschiges Plätzchen für eine Nacht oder für einen längeren Aufenthalt; einen Stellplatz am See, im Wald, auf einem Bauernhof oder Weingut, Campingplatz oder ganz vogelfrei mit Blick aufs Meer.
Seele baumeln lassen. Geht das nur unterwegs? Nein, das kann ich u.a. auch auf der Hollywood Schaukel zu Hause. Aber wenn ich unterwegs bin, sei es beim Laufen, Fahrradfahren oder eben im brummenden Wohnmobil, kann ich meine Gedanken und Gefühle anders fließen lassen, habe neue Ideen, gewinne Erkenntnisse über Fragen in meinem Kopf und Herzen. Über Tod und Sterben, über das Leben. Vielleicht bin ich eine Nomadin?
Das Meer zieht mich an. Wenn ich dort bin, empfinde ich einen tiefen Frieden. Ich brauche nicht zu tauchen oder zu schwimmen. Ich liebe die unterschiedlichen Nuancen des blauen Meeres, den Geruch aus einer Mischung von Fisch, Muscheln und Algen, den Geschmack von salziger Luft und die kreischenden Möwen. In diesen Momenten fühle ich mich grenzenlos glücklich. Wie damals auf Hawaii, als plötzlich eine Schildkröte eine Weile neben mir schwamm. Das war eine Mischung von Angst, Respekt, Demut und unendlicher Freude – eine ganz besondere Grenzerfahrung.
Auf elf Quadratmetern gibt es aber manchmal auch Stress, wenn man sich immer wieder neuen Hausforderungen zu stellen hat. Reagiert man darauf anders als zu Hause? Jein. Bei unterschiedlichen Problemlösungsansätzen muss man sich oft nur schneller einigen. Zum Beispiel kann man nicht lange diskutieren nach falschem Abbiegen aufgrund meiner Rechts-Links-Schwäche. Oder man muss sich unmittelbarer dafür entscheiden, einen Konflikt erst mal unaufgelöst stehen zu lassen.
Kann es eine Verwurzelung im Wohnmobil geben? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? In unserem Wohnmobil leben wir mit Leib und Seele auf das Wesentliche reduziert, und wenn wir die Tür aufmachen, hat unser Wohnzimmer jeden Tag eine neue Deko. Andererseits ist unser Zuhause auch dort, wo sich unser fester Wohnsitz befindet, wir die Sprache beherrschen. Aber sobald uns die Sehnsucht erfasst, unterwegs sein zu wollen, ist unserer Zuhause auch genau dort, wo wir mit unserem rolling home stehen. Das ist eigentlich wie bei Schnecken und Schildkröten, die immer ihr Haus dabeihaben und damit immer zuhause sind. Die Familie und Freunde sind wie fixe Sterne. Wir telefonieren oft oder haben FaceTime miteinander. Regelmäßig kontrollieren Angehörige den Briefkasten und schauen nach dem Rechten. Wenn es unaufschiebbare Dinge zu regeln gibt, kann das auch aus der Ferne telefonisch oder per Mail erledigt werden.
Die Wohnmobilisten sind eine große Community, man hilft sich aus, gibt Tipps, weiß Rat, verbringt eine gute Zeit miteinander, geht anschließend seiner eigenen Wege und manchmal trifft man sich auch wieder. Begegnungen mit Ortsansässigen sind ebenso willkommen und manchmal findet eine Unterhaltung mit „Händen und Füßen“ und viel Humor statt. Wir genießen diese Unverbindlichkeit. Genau darin liegt der Reiz, sich nicht einlassen zu müssen. Das Leben ist so kompliziert geworden mit all den unfassbar vielen Regeln, Gesetzen und Vorschriften. „Wir sind dann mal weg“, heiß auch, nicht sofort auf Anfragen etc. antworten, reagieren zu „müssen“. Wir haben vereinbart, wenn es etwas ganz Wichtiges gibt, wird telefoniert. Einsamkeit haben wir bisher noch nicht empfunden. Es ist ein langsameres Leben, das uns in seiner Einfachheit inspiriert und bereichert.
Uta
Die Verfasserin hat im Kurs „kreativ schreiben“ an der VHS Schorndorf ihr erzählerisches Talent erprobt. Sie will mit den Gernschreiberinnen der Gruppe 7punkt3 Kontakt halten und ist der Bitte nachgekommen, uns teilhaben zu lassen an dem Lebensgefühl unterwegs.
Renate Schauer PS.: 767.325 Wohnmobile gab es 2022 laut Martin Kord, statista.com in Deutschland – ein neuer Rekord.
Das Leben ist anstrengend geworden. Ständig Licht aus- und anmachen, sobald man das Zimmer wechselt, kalte Türklinken, kalte Klobrillen. Was das Virus begann, setzt die Energie-Krise fort: die Komfortzonen sind auf dem Prüfstand. Diesmal nicht nur umweltschädigende Kreuzfahrten und dergleichen, sondern auch das sorglose Aufdrehen des Wasserhahns beim Zähneputzen. Wann wird da mal nur noch ein Rinnsal fließen, wann vielleicht eine Rationierung den Verbrauch drosseln müssen?
Der Stoff wird den Schriftstellerinnen und Schriftstellern angesichts der angespannten Lage nicht ausgehen. Doch ist das Kulturwesen inzwischen an Leiden gewöhnt. Gleichzeitig haben sich die Beweise gehäuft, dass die Sehnsucht nach Kultur nicht unterdrückbar ist. Eventhunger. Das Wort klingt irgendwie blöd. Aber zusammenkommen will man schon, nicht nur einzeln bzw. einsam ein Buch lesen oder im Fernsehen gute Filme/Sendungen herausfiltern. Kultur nährt also – sehr gerne unter ebenso Interessierten.
Ist sie auch einfach herzustellen? Das war sie noch nie! Man hat es den Künstlern seit jeher nur gerne unterstellt, weil sie es ja angeblich zu ihrer Freude machen und dabei nicht auf finanziellen Profit schielen. Wer was für die Seele tut, muss ja nicht unbedingt daran verdienen, oder? Tja, diese Gratis-Irrationalität hält sich erstaunlich lange.
Vom Honorar eines Buches beispielsweise wird keine Autorin satt. Das war schon immer so. Lesungen als „Zusatzgeschäft“ bessern die Finanzen etwas auf, wenn der existenzsichernde „Nebenjob“ (wie taxifahren, Firmen putzen oder im Supermarkt Regale füllen) den Zeitaufwand dafür überhaupt erlaubt. Ja, es stimmt: Kultur ist Luxus – vor allem für deren Schöpfer/Urheberin! Daher ist es immer wieder erstaunlich, welche bemerkenswerte bis hervorragende Werke das Licht der Welt erblicken! Um ein Kind großzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf – wie ein afrikanisches Sprichwort sagt. Um ein Buch marktreif zu machen, bedarf es nicht weniger Geistes- und Handarbeiter!
Gespannt erwarten wir „365 Tage Liebe“. Für Ende November ist diese Anthologie angekündigt. Sie enthält Beiträge von Teilnehmerinnen des Schorndorfer Kurses „Kreativ schreiben“.
“Kunst darf wirken”, unterstreicht der aktuelle Newsletter der kkl-Redaktion und kündigt das nächste Thema an, zu dem Beiträge willkommen sind. Die drei Buchstaben stehen für „kunstkulturliteratur“, ein online-Magazin, gegründet von Martina Faber und Jens Faber-Neuling. Gestartet ist es im Januar 2021. Das Thema wechselt monatlich. „Der Inhalt darf Tiefe aufweisen um Spuren zu hinterlassen“, heißt es. Zu dem Projekt wollen wir Genaues erfahren.
Frage: 17 Themen bis jetzt. Welches Thema hatte die wenigsten Einsendungen, welches die meisten?
Jens Faber-Neuling: Die anfänglichen Ausschreibungen Januar und Februar 2021 am wenigsten. Das Thema „Nähe“ #kkl15 am meisten.
Wie viel Prozent der Einsendungen eignen sich nicht zur Veröffentlichung und was passiert mit diesen?
Jens F-N: Unterschiedlich, bis zu 30 Prozent. Die nicht veröffentlichten Einsendungen werden gelöscht.
Einige Texte erscheinen auch in der Facebook-Gruppe – wie werden die ausgewählt?
Jens F-N: Wir teilen hier jede Veröffentlichung und markieren die Künstlerin und Künstlern.
Veröffentlicht wird nur online – ist auch Print geplant?
Jens F-N: Derzeit nicht
Kennt Ihr Verlagslektoren, die in kkl nach AutorInnen suchen?
Jens F-N: Wir haben schon einige Verbindungen nach Anfragen hergestellt.
Habt Ihr schon früher Anthologien herausgegeben oder begleitet?
Jens F-N: Ja, aus unseren damaligen Verlegertätigkeiten.
„Kunst spiegelt, bewegt und setzt Ursachen!“ So der Untertitel Eures Magazins. Was meint Ihr mit „… setzt Ursachen“?
Jens F-N: Wir gehen davon aus, dass Kunst, Literatur auch auslöst. Das geschriebene Wort, sowie ein Bild kann gestalten, beeinflussen, Reize setzen, also Ursachen von Wirkungen darstellen.
Worauf zielt Ihr ab mit den Interviews auf YouTube?
Jens F-N: Wir stellen hier Künstlerinnen und Künstler vor und führen mit ihnen Gespräche über Kunst, Kultur und Literatur und über ihr Kunsterschaffen.
Womit finanziert Ihr das Projekt kkl?
Jens F-N: Nur durch die Leserschaft. Jeder, der unser Tun unterstützen und fördern möchte, kann dies tun. Somit bewahren wir unsere redaktionelle Freiheit und Unabhängigkeit. Wie die Leserschaft uns fördern und unterstützen kann, findet sie in unserer Rubrik „über #kkl“ in unserem Magazin.
Was habt Ihr langfristig mit den Beiträgen vor?
Jens F-N: Die veröffentlichten Beiträge in unserem Magazin bleiben online solange es #kkl Kunst-Kultur-Literatur ISSN 2751-4188 gibt. Die Rechte bleiben immer bei den Künstlerinnen und Künstlern.
Mein Leben als Parkuhr.Eine Aufgabe im Schorndorfer Kurs “kreativ schreiben”, um ungewöhnliche Blickwinkel auszuprobieren. Erstaunliche Vielfalt kam dabei zutage! Die Reihe “Mein Leben als …” wird fortgesetzt. Die originellsten Texte werden in einem Kalender für 2023 präsentiert. Hier eine Kostprobe, die bereits durch mehrere Feedbacks verfeinert wurde:
Olala – heute ist hier wieder was los! Mit gefällt das, wenn um mich Bewegung ist. Ich selbst stehe starr und funktioniere immer gleich. Deshalb halte ich Ausschau nach Interessantem und liebe Abwechslung.
Gegenüber ist eine Spielothek. Manchmal zeigt sich dort ein Türsteher von massiver Statur. Nur selten weist er Besucher zurück. Sogar die auffälligsten Leute beobachtet er ungerührt. Wie neulich das Pärchen, das lautstark stritt, als es etwas derangiert aus der Tür kam. Ein Wort gab das andere. Und als SIE mit ihren roten Fingernägeln das Gesicht ihres Begleiters zu bearbeiten begann, pfefferte der ihr plötzlich ein Bündel Banknoten vor die Sneaker. Mit dem lief sie eilends davon. Der Mann sprühte sich etwas in den Rachen ging wieder rein.
Letzte Woche hatte ich Pech. Nicht nur, dass es regnete und deshalb keine der netten Politessen vorbeikam. Nein, mir fiel etwas auf den Kopf. Eine zähe Masse verklebte großzügig mein Oberteil. Während ich darüber rätselte, hörte eine Stimme von oben: „Saublöd, das war der Teig für den Hefezopf! Wenn Oma wütend ist, wirft sie wohl alles aus dem Fenster, was griffbereit steht.“ An die Qualen der Reinigung will ich mich lieber nicht erinnern.
Meine liebste Episode passierte letzten Sommer: Braut-Entführung. Nebenan ist ein Lokal. Da sollte die Neuvermählte wohl versteckt werden. Ihre Entführer freuten sich auf den Sekt, der bei solchen Anlässen üppig fließt. Doch die Braut musste mal kurz ein Steinchen aus ihrer linken Sandale entfernen. Dazu stützte sie sich auf mich. Und als sie den Männern wieder folgte, „vergaß“ sie eine Blume aus ihrem Haarkranz auf meinem Haupte – als dezenten Hinweis für ihren Bräutigam. Ich habe mich über diesen Schmuck sehr gefreut.
Ups, ein Einwurf. Jetzt muss ich ticken. Demnächst erzähle ich weiter.
Info: Da wähnt man sich mit allen Wassern gewaschen, und dann: das Vorhaben geht baden oder das Ergebnis kann man bestenfalls als „verwässert“ bezeichnen. Erfolge werden gerne erzählt, Niederlagen lieber versteckt, verschleiert, schöngeredet. Gar manch berühmter Lebenslauf wurde aber erst durch Brüche oder Rückschläge zu dem, was man am Ende als „geglückt“ bezeichnete. Gemäß dem Spruch „Ich bin nicht gescheitert – ich habe 10.000 Wege entdeckt, die nicht funktioniert haben“ (Thomas Alva Edison) weist ein Straucheln oft den Weg in neue Fahrwasser. Diesem Phänomen wollen wir Geschichten widmen (Recherchen inbegriffen). Wenn Begegnungen zu vermeiden sind, sehen wir uns über Zoom zu Online-Übungsstunden. Bei Bedarf können weitere Termine angehängt werden.
Manchmal verdichten sich Anforderungen an die Leistungsfähigkeit, und zusätzlich wird das Leben von einer schwarzen Wolke überschattet. Urplötzlich öffnet sich in der Wolke ein Schlitz, die Nachricht von Tod eines lieben Bekannten fällt nieder, löscht kurzzeitig das Denkvermögen aus, die Glieder fühlen sich wie gelähmt an, der Schock kann die Tränen nicht bremsen. Corona? Nein, das war nur „das Zünglein an der Waage“, erfahre ich.
Jeden Tag hören wir von der Pandemie, Vorsichtsmaßnahmen sind allgegenwärtig. Begegnet mir ein Krankenwagen mit Blaulicht, wünsche ich dem Patienten/der Patientin, dass im Krankenhaus niemand ist, von dem eine Ansteckungsgefahr ausgeht, und vor allem, dass ein Bett frei ist. Wer einen Unfall oder einen Herzinfarkt erleidet, kann über „das Zünglein an der Waage“ in ein noch schlimmeres Schicksal geraten oder gar sterben.
Wutentbrannt wird über „Impfpflicht ja/nein“ gestritten – leider mit zunehmend verhärteten Fronten. Genau letzteres sollten wir uns nicht leisten. Hierzu sind Psycholog:innen und andere Wissenschaftler:innen gefragt, damit wir trotz schwerwiegender Meinungsverschiedenheiten mit weitreichenden Konsequenzen ein friedliches Land bleiben.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen besinnlichen Advent!
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Kaum hatte ich meinen Beitrag „Klo. Wo?“ gepostet, fiel mir „Das Patriarchat der Dinge: Warum die Welt Frauen nicht passt“ von Rebekka Endler in die Hände. Der öffentliche Raum ist – so belegt sie – an den Bedürfnissen von Männern ausgerichtet. Auf die Klo-Frage stieß ich bei der Lektüre gleich als erstes Beispiel.
Es wird geschildert, wie eine niederländische Studentin 2015 fürs „Wildpinkeln“ Strafe zahlen sollte und sich dagegen wehrte. Als sie dem Drang ihrer vollen Blase in einer geschützten Ecke nachgab, wurde sie von der Polizei beobachtet und war ca. 1,5 km vom nächstgelegenen Sitzklo entfernt. Es hieß damals, Frauen sei im Zweifelsfall zuzumuten, ein Urinal aufzusuchen, wobei die niederländischen Modelle allerdings die Sicht auf das Hinterteil freigeben, wenn eine Frau in die Hocke geht. Ein Urinal wäre näher gewesen, aber die Scham vermutlich nicht geringer.
Frauen – so ist in diesem Kapitel weiter ausgeführt – hatten sich früher nicht über weite Strecken im öffentlichen Raum aufzuhalten und wurden deshalb beim Bau von „Bedürfnisanstalten“ kaum berücksichtigt. Männer seien öfter beim „wilden“ Urinieren erwischt worden. Somit war die Notwendigkeit, sichtschützende Rundelle für sie aufzustellen, offenbar.
Männer werden auch heute noch am Waldrand und sonstigen Plätzen gesichtet, wenn sie ihr kleines Geschäft nicht bis zur nächsten Toilette aufheben können. Wenn Frau darüber witzeln oder schimpfen, wird ihnen gerne vorgehalten, sie seien nur neidisch, weil sie sich nicht so bequem erleichtern können. Man könnte darüber mit einem Achselzucken hinweggehen, wenn das Netz von öffentlichen Toiletten dichter wäre. Außerdem gibt es ja noch einen gravierenden Unterschied zwischen Männlein und Weiblein in dieser Angelegenheit: Häufig müssen Frauen dafür bezahlen, ein „stilles Örtchen“ nutzen zu dürfen, während Männern das nebenan gratis gewährt wird.
Wenn der Mann das Maß aller Dinge ist (das formuliert auch der Dumont Verlag zu diesem Buch), kann das ganz schön gefährlich werden. Man denke nur an „Diagnoseverfahren und medizinische Geräte bis hin zu Dosierung von Medikamenten. Aber auch Die Dummys für Crashtests haben den männlichen Körper zum Vorbild – und damit das ganze Auto samt Airbags und Sicherheitsgurten.“
In diesem Zusammenhang ist auch der SPIEGEL-Bestseller „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez interessant. Sie legt (Klappentext) „die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten offen. Die so entstandene Wissenslücke liegt der kontinuierlichen und systemischen Diskriminierung von Frauen zugrunde und erzeugt eine unsichtbare Verzerrung, die sich stark auf das Leben von Frauen auswirkt. Beispiele aus Politik, Technologie, Arbeitswelt, Stadtplanung und medizinischer Forschung zeigen, wie Verzerrungen bei der Datenerhebung Frauen ausschließen.“ (btb) Ein spannendes Buch, flüssig und alltagsnah geschrieben.
Die gewaltige Ignoranz diesem Themenkomplex gegenüber bekommt schon Jahrzehnte Gegenwind. Der schwillt inzwischen vernehmlich an und fegt sie hoffentlich schleunigst auf Nimmerwiedersehen hinweg!
Rebekka Endler. Das Patriarchat der Dinge: Warum die Welt Frauen nicht passt. 336 Seiten, 2021, DuMont Buchverlag, 22 €
Caroline Criado-Perez. Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert, 496 Seiten, 2020, btb Verlag, 15 €
Zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit ich das erste Mal in unserer Kreisstadt bei einer Beerdigung das „Örtchen“ aufsuchen musste. Ich war froh, dass es eins gab, auch wenn dessen Outfit noch von „vorvorgestern“ war. Die Tür aus Holz war sogar unten „angefressen“, so dass ein kühles Lüftchen hereinwehte. Doch man konnte mit einem Riegel abschließen, die Spülung funktionierte, und Händewaschen war auch möglich.
Bald wurden mir Friedhöfe zur Zuflucht, wenn ich auf Landstraßen unterwegs war. Sie sind nicht wie Autobahnen fürs Pippi-Machen gerüstet. Es ist nicht jederfraus Sache, mal eben kurz in den Wald hinter Bäume zu verschwinden. Der Mangel an Hygiene-Einrichtungen war lange Zeit auch in Supermärkten zu beklagen. Ich begann, in Städten vorbildlich eingerichtete „Bedürfnis-Anstalten“ (ein altes schönes Wort!) zu fotografieren. Da ein sog. dringendes Bedürfnis nicht nur Schwangere beim Stadtbummel überkommt, wurde mancherorts „die nette Toilette“ in Gaststätten eingeführt, wo die öffentlichen Toiletten rar sind. Wie kann es überhaupt geschehen, dass sie städtebaulich vergessen werden? Wer sich während des Lockdowns nach den nett-toilettierten Gaststätten umsah, stand oft vor verschlossener Tür.
Ohne Namen zu nennen will ich den ärgerlichen Fall erwähnen, dass ich in einer Gemeinde Pech hatte, als ich das WC auf dem Friedhof benutzen wollte. Da ich dort öfter Gräber besuchte, habe ich auch beim nächsten Mal wieder auf die Klinke gedrückt – abermals vergeblich. Es war auch kein Schild mit „Derzeit wird hier renoviert“ oder so angebracht. War hier mal ein Junkie erwischt worden? Fehlte Personal für Pflege und Wartung? Wie steht es hier mit den Rahmenbedingungen für die im Grundgesetz garantierte Würde?
Es passt ins Zeitgeschehen, dass alles, was wir hinter/unter uns lassen (unliebsame Hinterlassenschaften eben) nicht entsprechend berücksichtigt wird. Von Atommüll bis hin zu … Aufzählungen sind an dieser Stelle nicht nötig. Berichtet werden soll jedoch, dass der Stadtteil mit der „angeknabberten“ Klotür vor einigen Wochen mit der Eröffnung einer nagelneuen, modernen Friedhofstoilette glänzen durfte. Bravo! Nach mehr als 20 Jahren eine wahrhaft sagenhafte Leistung!