Monatsarchiv für November 2014

Nov 09 2014

Wunderlich fährt nach Norden

Autor: . Abgelegt unter Kultur,Literatur

Wie charmant es sein kann, wenn nicht alles enträtselt wird, zeigt uns Marion Brasch mit ihrem zweiten Roman „Wunderlich fährt nach Norden“. Die besonderen Momente im Unbestimmten ergeben ein kurzweiliges Buch, obwohl nichts wirklich Spektakuläres passiert.

Acht Tage begleiten wir Wunderlich, 43, Gelegenheitsjobber nach gescheiterter Ausbildung zum Bildhauer, der Wundersames und Skurriles erlebt, das ihn nach und nach aus seiner Lethargie lockt. Bevor es auf Seite 255 heißt, der Protagonist sei „aufgewacht“, ließ er sich (fast) nur treiben. Belohnt wurde er mit der Entwicklung vom unglücklichsten zum verwirrtesten Menschen, den er kannte. Ein verschmitztes Grinsen ist hier wie an vielen anderen Stellen des Romans „Wunderlich fährt nach Norden“ von Marion Brasch kaum zu unterdrücken.
Wunderlich wird uns von seinem Mobiltelefon vorgestellt. Denn das kann sprechen beziehungsweise übermittelt „Weisheiten“, Warnungen und Wegweisendes. Mr. oder Mrs. Anonym wird den ganzen Roman über seine/ihre Identität nicht preisgeben, aber zwischendurch als „Orakel“ verkünden, was diesem oder jenem Zeitgenossen bevorsteht oder was er bereits hinter sich hat. Zunächst fordert es den von Liebeskummer geplagten Wunderlich auf: „Guck nach vorn.“„Anonym“ ist das erste Mysterium – witzig, unaufdringlich, spannungshaltend. Zudem gibt es im Roman eine Reihe von Begegnungen auf dem Weg nach Norden, die bis ins Detail eine gute Tragfähigkeit beweisen, aber jenseits des Üblichen rangieren. Dennoch muss noch etwas Sagenhaftes eingeführt werden: Blauharz – mit der wunderbaren Eigenschaft, schnell Wunden zu heilen. Die Kehrseite ist, dass man vergisst, dass und wodurch man verletzt gewesen ist. In philosophischer Hinsicht stellt sich die Frage, ob das in jedem Fall wünschenswert ist.
Marion Brasch hat in „Ab jetzt ist Ruhe“, dem Roman ihrer „fabelhaften Familie“ (2012), eine Erkenntnis formuliert, die Pate gestanden haben könnte bei Wunderlichs Reise – die Autorin hatte als junge Fahranfängerin begriffen, „ […] dass das schnellere Überwinden von Entfernungen nichts mit dem Erreichen von Zielen zu tun hat, die meinem Leben eine tiefere Bedeutung geben würden.“ Wunderlich, eher ein zielloser Langeweiler, bricht lediglich in eine Richtung auf („nach Norden“), das Zeitbudget scheint keine Rolle zu spielen (Gelegenheitsjobber) und ob etwas tiefere Bedeutung erlangt, wird er früher oder später merken. Das weckt Neugier, ob Unbestimmtheit gehaltvoll sein kann oder ob sich etwas herauskristallisiert, das über das Hier und Jetzt hinaus kostbar wird.

Es passt zu Wunderlich, dass sein Ausweis abgelaufen ist und ihn deshalb eine resolute Zugbegleiterin auf einer verlassenen Bahnstation aussetzt. Hier trifft er Finke, der ihn mit in seine Behausung nimmt. Wunderlich überlässt sich ohne Eile einer Reihe von Zufällen und entdeckt dabei manchen Kern, nach dem er gar nicht gesucht hatte. Auffällig: Es treten mehrere rothaarige Frauen auf – rothaarig war auch die Ex-Frau von Wunderlich, mit der er einen Sohn hat, den er vor elf Jahren das letzte Mal gesehen hat und es gibt mehrere Akteure, die wie Wunderlich 43 Jahre alt sind – unter anderem der Entdecker des Blauharzes, dem seine Entdeckung nicht gut bekommen ist. Auf welche Assoziationen und Rückblenden sich Wunderlich einlässt, ist ganz allein ihm überlassen. „Anonym“ spuckt kaum eindeutige Empfehlungen und schon gar keine Gewissheiten aus.

Auszuprobieren, wie es sich anfühlt, wenn einer weder zeitlich noch räumlich zu lokalisieren ist, kann Spaß machen, wie die Autorin – sie arbeitet als freie Rundfunkredakteurin – beweist. Jedenfalls spielt die Handlung während einer Phase in einem Landstrich, als dort zwei Kaffee und ein Schnaps noch „vierachtzig“ gekostet haben. Die Währung wird natürlich nicht verraten!

Ob es nun Wunderlich bis zum Meer schafft oder nicht, ist eigentlich fast unerheblich. Dass er manche Rätsel nicht lösen kann und ihn andere Erscheinungen irritieren, fügt sich glaubwürdig in diesen charmanten Roman, der sonderbare Momente sammelt, liebevoll ausstaffiert und dezent mit feinem Humor würzt. Hauptsache Wunderlich fühlt, dass diese Geschichte zu seinem Leben wird, er nicht länger Zuschauer bleibt. Dies ist schon viel, um das Vertrauen für alles Folgende zu kräftigen.

Marion Brasch: Wunderlich fährt nach Norden. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
288 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100013682

 

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