Apr 27 2010
Die Spargelfrau und ihre Not
Allerorts schießen die Spargelhütten aus dem Boden. Sie vermehren sich, denn frischer Spargel ist beliebt, der Markt für einheimische Anbieter hat sich im letzten Jahrzehnt dynamisch entwickelt. Gekauft wird gerne vom Direktvermarkter.
Das Geschäft mit dem Spargel blüht also, ist aber sehr personalintensiv. So meldet eujob24.de am 24. April: „In den ersten drei Monaten des Jahres 2010 bekam die Bundesagentur für Arbeit ca. 84 000 Anforderungen für Arbeiter aus dem Ausland in der Landwirtschaft.“ Das Saisongemüse ist somit auch verknüpft mit internationalem Austausch, wie in vielen Reportagen über gemeinsames Feiern und Gegenbesuche deutscher Landwirte in Polen oder Rumänien usw. zu lesen ist.
Der Spargel kommt immer näher zum Endverbraucher. Bis zur nächsten Hütte waren es bislang neun Kilometer, jetzt wurde eine neue Hütte auf halber Strecke zum nächsten Dorf errichtet, wohin man bequem spazieren oder radeln kann. Der erste Einkauf dort warf aber auch ein Licht auf den Nachteil des Standorts.
Eine Kundin fragte die Verkäuferin ganz direkt: „Wohin können Sie denn aufs Klo gehen?“ Die Antwort: „Ja, morgen kommen die Erdbeeren.“ Mit einem unguten Gefühl schaute ich mich um: kein Haus oder dichtes Gebüsch in der Nähe. Pausenzeiten waren am Stand nicht angeschrieben. Die Verkäuferin sitzt wie auf einem Präsentierteller – und verstand die deutsche Sprache offenbar nur leidlich. Oder wollte sie in diesem Fall nur höflich ausweichen?
Die Kundin ließ ich aber nicht beirren und insistierte weiter. Zögerlich kam dann: „Das ist ein Problem.“ Und sehr engagiert hinterher: „Aber das ist nur meine persönliche Meinung!“ Also bloß nichts Schlechtes über den Job sagen! Die Freundlichkeit gegenüber dem Arbeitgeber gestattete es dennoch, dass sie preisgab: Um jeden Tag um acht Uhr mit dem Spargelverkauf beginnen zu können, muss die junge Frau um vier Uhr morgens aufstehen. Der langen Wegezeit ist auch geschuldet, dass sie nachts nur knapp fünf Stunden schläft, denn ihr Dienst endet erst um 19 Uhr.
Der Spargel schmeckte gut, auch an den folgenden Tagen. Doch die Not der Einzelkämpferin sitzt immer mit am Tisch. Gestern fragte ich sie: „Haben Sie eine Ablösung, wenn Sie mal Pause machen möchten?“ „Nein, aber gleich bringt mir eine Kundin etwas zu trinken. Ich habe heute meine Wasser-Flasche daheim vergessen.“
Bei welchem Discounter durften die Kassiererinnen während der Arbeitszeit nicht zur Toilette? Die Diskussion darum wich jener über die Überwachungsmaßnahmen. Fazit damals: Zeichen setzen und anderswo einkaufen. Nun wirft sogar Saisongemüse im netten kleinen Stand auf der grünen Wiese Fragezeichen auf.
Das Reflektieren von Arbeitsbedingungen und der eigenen Konsumhaltung kann das Leben ganz schön kompliziert machen! Mitnehmen, was die Welt zu bieten hat, und Schwamm drüber – ist es das, was am besten mit dem Zeitgeist harmoniert?
Einen eleganten Ausweg bietet das Brecht-Zitat, mit dem schon Marcel Reich-Ranicki einst das Literarische Quartett (1988 – 2001 im ZDF) klug zu beenden wusste: „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“