„Warum soll man die Wahrheit suchen, wenn jeder mit seiner gut leben kann?“ Ich weiß nicht mehr, von wem der Satz stammt, doch er bezog sich auf den Roman Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik von Emma Braslavsky. Ein hervorragendes Buch, das ich so schnell nicht vergesse. Hier eine anschauliche Rezension darüber > http://bit.ly/x9UCmH
Das Buch erwähne ich deshalb, weil ich immer wieder gefragt werde, ob Memoiren denn wahr sein müssen. Ob man sich wirklich bis ins Kleinste erinnern können muss. Ob es unschicklich oder unlauter ist, etwas auszumalen oder wegzulassen, unwissentlich falsch darzustellen oder einfach zu übertreiben. „Es kommt darauf an“, leite ich gerne die Gewissenserforschung ein.
Dazu machte eine persönliche Erfahrung, die mich schmunzeln ließ. Wie ich bereits am 25. September 2011 in diesem Blog ausführte, ebnet eine „Zeittafel“ den Zugang zu Erinnerungen. (Sie finden diesen Beitrag, wenn Sie in das Suchfeld „Zeittafel“ eingeben.) Eines Tages sandte ich einige Fragmente aus meiner Zeittafel meinem Vater. Vielleicht könne er etwas ergänzen und finde etwas, das zu korrigieren wäre.
Und so kam es, dass eine feste Redewendung meiner Mutter plötzlich auf den Prüfstand kam. Sie hatte von mir als einjährigem Kind behauptet, dass ich bei Ruhestörungen nachts immer „senkrecht im Bett stand“. Ich hatte das Bild vor Augen: hochgeschreckt und von den Eltern gehalten, während unter uns die anderen Hausbewohner eine lautstarke „Party“ veranstalteten. Diese Szene darf als zentraler Punkt in unserer Familiengeschichte gesehen werden, denn ohne diese nächtliche Pein, die uns häufig zusetzte, hätten meine Eltern nie das Abenteuer „Hausbau“ auf sich genommen. Die Lärmenden konnten damals nicht beruhigt werden, denn es handelte sich um Lehrlinge des Braugewerbes, die aufgrund des Biers, das ihre Lebensgrundlage war, nachts zur Höchstform aufliefen und für Beschwichtigungen unerreichbar blieben.
Mein Vater meinte nun mehr als 50 Jahre später: „Das kann nicht stimmen, denn mit in dem fraglichen Alter konntest du noch nicht stehen.“ Verblüfft musste ich ihm Recht geben. Futsch war das schöne Bild mit „senkrechten Baby im Kinderbettchen“! Entweder die Formulierung meiner Mutter war lediglich im übertragenen Sinne zu verstehen oder ich erinnere mich nicht exakt an sie. Wie dem auch sei, es wird immer mehrere Möglichkeiten geben, eine Begebenheit, Örtlichkeit oder Handlung aufzufassen und zu formulieren.
Der ungeklärte Tod der Großmutter regt in dem o. g. Roman von Emma Braslavsky sechs Enkel zu Spekulationen an, die sehr unterhaltsam sind. Wir alle bekommen damit vorgeführt, dass jede und jeder sich seine Version der Geschichte zurechtlegt – unabhängig davon, wie sehr er oder sie der Wahrheit nahekommen will oder ob dies überhaupt zu bewerkstelligen ist.
Es gibt Menschen, die schreiben ihre Vergangenheit oder die ihrer Familie nieder, um dabei in alle Verästelungen vorzustoßen und Einzelheiten sowie den alles zusammenhaltenden Bogen offen zu legen. Andere wiederum haben diesen Anspruch nicht. Sie möchten erzählen. Dabei hangeln sie sich an ihren Erinnerungen entlang und räumen ein, dass ihre Fantasie manches Detail aus der Luft griff (weil es so gewesen sein könnte) oder Naheliegendes ergänzte (das nicht mehr exakt zu ermitteln ist) oder etwas ins Fiktive drehte (damit die Geschichte einen gewünschten „Dreh“) bekam.
Die Möglichkeit, Ungenaues oder Fabuliertes kenntlich zu machen, mag man nutzen oder auch nicht. Wie man damit die Vorstellung der Enkel und anderer RezipientInnen beeinflusst, steht auf einem ganz anderen Blatt. Grundsätzlich gilt (auch für jene, die ihre Zielgruppe fest umrissen haben): man schreibt für sich und muss mit dem Ergebnis zufrieden sein. (Und einige leisten sich dazu einen Coach oder Ghostwriter, um sich die Arbeit zu erleichtern.)
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