Zwar rezensiere ich Neuerscheinungen (u.a. für www.literaturkritik.de, Universität Marburg), doch ab und zu greife ich sehr gerne zu alten Büchern. Sehr neugierig war ich auf „Die Stunde der Frauen“ (DVA, 1988). Darin beschreibt Christian Graf von Krockow, was seine Schwester 1944 bis 1947 in Pommern erlebte und wie ihr schließlich die Flucht in den Westen gelang. Es ist nicht nur ein fesselnder Bericht, sondern einige Details prägten sich mir besonders ein. Unter anderem dass sich die Menschen an Abenden, an denen kein Licht eingeschaltet werden konnte, mit auswendig gelernten Gedichten die Zeit erträglich machten. Sie waren dann in der Literatur zu Hause und „vergaßen“ das angsteinflößendes Chaos um sie herum.
Und genau das führte dazu, dass ich die folgende Geschichte nicht mit „Zucht und Ordnung“ verbinde, sondern in jenen Strukturen wie hier beschrieben durchaus ein Rüstzeug für „haarige Zeiten“ erkenne. Lassen Sie sich in eine einklassige Dorfschule in der jungen BRD entführen, ohne dass die Sitten von damals verklärt werden:
Der Schulalltag
„Guten Mooorgen, Herr Lehrer!“, tönte es mir jedes Mal entgegen, wenn ich morgens Punkt acht Uhr den Schulsaal betrat. Die Kinder standen auf und ich begrüßte sie ebenfalls. Doch sie setzten sich danach nicht wieder hin.
Am ersten Tag schaute ich etwas überrascht in die Runde. „Beten!“, tönte es mir von den Kleinen entgegen. Gehorsam faltete ich die Hände und die Kinder machten es mir nach. Dann sprachen sie ihr übliches Morgengebet und da ich es zum Glück auch kannte, konnte ich laut mitbeten. Danach blieben sie immer noch stehen. Was denn jetzt noch?, dachte ich im Stillen, doch da tönte es mir schon wieder entgegen: „Singen!“ Ich nickte zum Zeichen meines Einverständnisses und diesmal stimmten die großen Mädchen ein Morgenlied an und alle sangen mit. Da mir die Gabe des Gesangs leider nicht gegeben ist, sang ich nur ganz leise mit. Mehr wurde offensichtlich auch nicht erwartet. (…)
Als die drei Strophen verklungen waren, blieben die Kinder immer noch stehen. Diesmal sagte ein Viertklässler jedoch sofort: „Gedicht!“ Er zögerte auch keinen Moment, aus der Bank zu treten und vor der Klasse ein Gedicht aufzusagen, das auch im Lesebuch stand und das die Mittelstufe vor Kurzem erst auswendig gelernt hatte, wie ich aus dem Lehrnachweis ersehen konnte. Dann war eine Schülerin der Oberstufe an der Reihe. Auch sie stand sehr unbefangen vor der Klasse und trug ein Sommergedicht vor, ohne Fehler, ohne hängen zu bleiben und mit sinnvoller Betonung. Mir wurde bald klar: Ich übernahm hier eine Schule, in der feste Strukturen und sinnvolle Gewohnheiten eingeführt waren und ich beschloss,
daran auch gar nicht zu rütteln (…).
In den nächsten Wochen lernte ich meine Schule noch besser kennen und die eingeführten Regelungen ebenso: Zwei Kinder hatten den Tafeldienst, wischten die Tafeln sauber, wenn es nötig war, sorgten dafür, dass der Schwamm immer nass war und dass Kreide bereitlag. Dieser Dienst wechselte wöchentlich. Zwei größere Buben waren für den Kartendienst eingeteilt und standen bereit, wenn irgendetwas aus dem Lehrmittelraum zu holen war bzw. zurückgebracht werden musste. Wenn sie etwas aus diesem Raum holen sollten und sie sagten „Das haben wir nicht!“, dann konnte ich sicher sein, dass das auch stimmte. Ich habe da gelegentlich am Nachmittag die Probe aufs Exempel gemacht.
Ging es zum Sportplatz im Nachbardorf Desloch, mussten allerhand Kleingeräte mitgenommen werden. Bälle, Seile, Metermaß etc. wurden in Netze gepackt und zwei Buben nahmen die Netze auf den Rücken und sorgten auch dafür, dass alles wieder mit nach Hause genommen wurde und nichts auf dem Sportplatz liegen blieb.
Erste Erfahrungen
Die Erstklässler kamen normalerweise erst um zehn Uhr zum Unterricht und verlangten dann auch meine volle Aufmerksamkeit. Ihnen waren noch keine langen Stillarbeiten zuzumuten. Wenn sich allerdings ältere Schüler oder Schülerinnen zu ihnen setzten, um mit ihnen zu üben, arbeiteten sie fleißig mit und akzeptierten die Hilfe auch.
Am meisten überraschte mich allerdings ihre Unbefangenheit mir gegenüber. „Herr Lehrer, kannst du mir einmal die Schuhe binden?“, fragte zum Beispiel so ein kleines Mädchen und hielt mir seinen Fuß hin. Ich wollte schon der Aufforderung Folge leisten, besann mich aber dann doch noch eines Besseren und zeigte ihm, wie man so etwas macht. Ich muss zugeben, es hatte es schnell begriffen. „Gib mir doch einmal ein Glas, ich will Wasser trinken“, sagte einer von den Knirpsen in der Pause, als er dabei war, den Wasserhahn im Hof aufzudrehen. Ich zeigte ihm, wie man auch ohne Glas aus der hohlen Hand Wasser trinken konnte und er machte es eifrig nach. Dabei wurde zwar der Ärmel etwas feucht, aber das hat ihn nicht weiter gestört.
Die älteren Schülerinnen und Schüler begegneten mir mit Respekt und Freundlichkeit. Für sie wie auch für ihre Eltern war ich der „Herr Lehrer“ – und nicht nur in der Anrede. Ich nahm mir vor, ihnen genauso respektvoll zu begegnen, sie niemals „fertig zu machen“ und „herunterzuputzen“, wie es manche Lehrer an meinem früheren Gymnasium mit uns gerne gemacht hatten. Außerdem wollte ich niemals die Prügelstrafe anwenden, wie ich sie während meiner Volksschulzeit öfter erlebt hatte. Sie war damals noch erlaubt und wurde durchaus auch praktiziert. (…) (Leicht gekürzt.)
Autor: Egon Busch
[Jeckenbach, Amt Meisenheim Kreis Kreuznach, Rheinland-Pfalz;1960 – 2002]
Mit Dank an den Zeitgut Verlag, Berlin, entnommen aus Kirchner, Wenderoth, Busch. Guten Morgen, Herr Lehrer. Drei Dorfschullehrer erzählen. 1959 – 2002. Unterhaltsame und heitere Erinnerungen an die einklassige Dorfschule. 256 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister, ISBN 978-3-86614-225-1, Euro 10,90
Tags: auswendig lernen, Busch, Dorfschullehrer, einklassige Dorfschule, Gedichte, Graf von Krockow, Kirchner, Lehrer, Schule, Wenderoth, Zeitgut Verlag