Nov 01 2019
Trauer & Erinnerung
Schwarzgekleidete entfernen sich vom Friedhof. Völlig klar, wer zum „engsten Kreis“ gehört und zu einem Kaffee eingeladen ist. Auch jene, die Geburtstage wegen „Terminschwierigkeiten“ versäumten, haben jetzt Zeit. Die Angehörigen haben vorläufig genug geweint. Die Trauer kommt sowieso später.
Doch was bleibt von der/dem Verstorbenen? Welche Bilder setzen sich endgültig fest, welche Episoden überleben? War die Trauerrede aufschlussreich? Hat sie Erinnerungen der Gäste aufgefrischt, diese vielleicht sogar ergänzt oder enthielt sie womöglich eine Korrektur alter Spekulationen? Was würde der oder die Verstorbene dazu sagen?
Wechseln wir sie Szene. Eine Freundin kündigt an, sie schickt mir den Text, der an ihrem Grab vorgelesen werden soll. Auch ihr Bestatter weiß davon. In einem „Vorsorge-Gespräch“ hatte sie mit ihm alles geregelt, da aufgrund ihrer unheilbaren Krankheit möglicherweise nicht mehr viel Zeit bliebe. Ihrem Sohn sollten im Sterbefall leidvolle Entscheidungen erspart bleiben. Wenig später staune ich, dass dieses Leben nicht mehr als ein DIN-A-Blatt beansprucht. „Mehr muss man von mir nicht wissen“, so meine Freundin, zu der diese Art von Minimalismus passt. Keinerlei Ehrgeiz, anderer Leute Erinnerungen beeinflussen zu wollen.
Abermaliger Szenenwechsel. Das Geburtstagskind bittet die fröhliche Tischrunde um Aufmerksamkeit: „Früh habe ich Vater und Mutter verloren, ohne sie genügend über ihr Leben ausgefragt zu haben. Ich will, dass Ihr überliefert bekommt, was mir wichtig war und ist, was mich geformt hat, wovon ich mich freigeschwommen habe, welchen Werten und Visionen ich folgte. Dank der Rente habe ich jetzt Zeit und Muße, alles aufzuschreiben. Und wenn ich 100 Jahre alt werde, entsteht keine Ratlosigkeit über meinen Nachruf, weil möglicherweise keiner von meinen Weggefährten mehr Auskunft geben kann.“
Sein Neffe will das forsch abtun, weil ja „immer jemand da ist, der Daten rekonstruieren kann.“ „Um Daten geht es nicht“, fällt ihm eine Cousine ins Wort. „Anekdoten geben Auskunft über Haltung, Brüche und Richtung eines Lebens. Und die müssen notiert sein, denn Erinnerungen sind vage, manchmal auch lückenhaft.“
Zugegeben – diese Montage von Szenen steuert absichtsvoll auf den Punkt zu, dass Gedanken um die Endlichkeit des Lebens unbeliebt sind und somit Vorausschauendes unterbleibt. Gemeint ist, sich beizeiten die Hoheit darüber zu sichern, was von einem in der Welt bleibt, wenn man diese verlassen hat. Ob das nun Memoiren sind oder einfach Stichpunkte bzw. Skizzen von einzelnen Lebensstationen – die Nachgeborenen werden zu schätzen wissen, im O-Ton das zu erfahren, was sie nicht erfragt oder vergessen haben.
Freilich können jene, die die Beisetzung ausrichten, Auskunft über den Verstorbenen geben, wenn eine Trauerrede erstellt werden soll. Doch was macht die Trauerrednerin, wenn die Perspektive eines langjährigen Ehepartners fehlt, weil dieser zuvor gestorben oder aufgrund einer Trennung nicht mehr greifbar ist? Kinder haben Vater oder Mutter erst kennengelernt, als diese bereits erwachsen waren, und noch später erst begreifen gelernt. Somit ist ihr Blickwinkel ein anderer als der der Generation davor. Zudem ist es nicht selten, dass sich Kinder widersprechen – der eine hat die Mutter zaudernd erlebt, der andere als dominant.
Wobei die Trauerrede nur eine Augenblickssache ist. Sie ist das Nadelöhr, durch das man sich beim Abschied auf dem Friedhof zu schlängeln hat. Sie dient der Balance zwischen Aufgewühltsein und der Vernunft, die die sterblichen Überreste dem Friedhof übereignet. Sie soll zur Ruhe führen, dem inneren Frieden mit dem Schicksal den Weg bereiten.
Weitreichender ist die Spur, die ein Mensch hinterlässt. Er war zweifelsohne mehr als die Summe aller Worte, die man über ihn verliert. Er wird unweigerlich in Mosaiksteinchen erinnert. Die Schwester erinnert andere Momente als die Angetraute oder der Sohn, der Blickwinkel der einstigen Schulkameradin unterscheidet sich von dem der Nachbarin oder dem des Hausarztes. Das alles zusammenzubinden, wäre eine große Aufgabe, bei der dennoch niemand gewährleisten könnte, dass das Ergebnis dem Erinnerten gerecht würde. Dieser selbst verleiht sich Authentizität, indem er allen Hinterbliebenen an die Hand gibt, was aus seiner Sicht im Gedächtnis behalten werden soll.
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