Archiv für das Tag 'Christian Frommert'

Mai 12 2013

BMI-Tendenz “ungesund” & Tabu-Brüche

Autor: . Abgelegt unter Alltag,Literatur

Sie wollte sooo gerne ein Cowboy sein, Freiheit und Natur liebte sie über alles. In der Schule hatte sie es schwer (lispeln, Rechen- und Schreibschwäche). Sie passte nicht richtig ins System. Das war ihr peinlich. Es half auch nicht, dass sie aus der wohlhabenden Jacobs Kaffee-Röster-Dynastie stammt, etliches an Nachhilfe und Therapie bekam. Schleichend glitt sie in eine Magersucht, deren Gefährlichkeit ihr erst während einer Lungenentzündung richtig gewahr wurde.

   „Die Psyche kann so mächtig werden, das ist wie Treibsand“, sagte Louise Jacobs in der SWR-Sendung „Leute“ (http://url9.de/CKf). Dort wurde sie über ihr Schicksal befragt, worüber sie das Buch „Fräulein Jacobs funktioniert nicht – Als ich aufhörte, gut zu sein“* geschrieben hat. Es liest sich gut (erfreulich kurze Kapitel!), entführt unter anderem nach Vermont, USA, und konzentriert sich nicht auf die Essstörung. Diese erwächst aus einem Rückzugsverhalten, als alles andere aussichtslos „verfehlt“ oder „verfahren“ erscheint. Mit dem Nahrungsentzug konnte Louise Jacobs hässlich gegen sich selbst und gleichzeitig stolz auf sich sein. Heute ist sie (Jahrgang 1982) Mutter und schätzt des Lebens Fülle. Sie spricht begeistert darüber, lässt aber keinen Zweifel aufkommen, dass die Umkehr aus der Zerstörung schwer war.

Seither …

stach überwiegend analytische gefärbte Literatur über diese Krankheit ins Auge und daneben verkaufte sich die Sichtweise der Mütter Magersüchtiger zwischen zwei Buchdeckeln gut. Anstatt das Augenmerk auf das Verhältnis zur Mutter zu verengen, dient der Blick auf die Themen „Macht, Kontrolle, Leistungsdruck“ oft rascher der Demaskierung der Schieflage.

    Man muss sich vorstellen, dass Magersüchtige ständig Hunger haben, den es in Schach zu halten gilt. Die Fähigkeit, das Hungergefühl wegdrücken zu können, nährt das Selbstbewusstsein. Stolz entsteht, weil man sich als standhaft erlebt. Das will man letztlich nicht mehr aufgeben, sondern immer weiter perfektionieren.

   Vor diesem Hintergrund wirkt das Schlankheitsideal, das über uns allen schwebt, grotesk. Offenbar muss man nur wollen, um ihm gerecht zu werden. Wer abnimmt, wird bewundert. Doch vieles ist geschönt/unwahr auf diesem Sektor, damit Appetitzügler und dergleichen Umsatz bringen. Sinnigerweise arbeitet sich auch die Gesundheitsindustrie ab an dem Thema (Übergewicht belastet Gelenke und das Herz-Kreislauf-System), während über Arbeitssucht jahrzehntelang kein Wort verloren wurde. Sie wird uns dank Burnout jetzt häufiger aufgetischt, und Depressionen sind Gott sei Dank auch nicht länger tabu.  

Doppelmoral

Hinweise auf die Doppelmoral werden lauter, dass man stets zu Diäten animiert wird, die langfristig so reiz- wie nutzlos sind. Die Nötigung zu Kleidergröße 34 geht von jedem Laufsteg aus, wo man jungen Frauen, die sich gerne im Licht von Kameras bewegen, jedes Gramm vorrechnet. Während den Beleibten unterstellt wird, sie seien willensschwach und mit zunehmendem Alter krankheitsanfällig, verbindet man mit Schlanksein Selbstbeherrschung und Disziplin, eben Tugenden, mit denen man es in der Leistungsgesellschaft zu etwas bringen kann. Das perfektionierte Entsagen macht jedoch ratlos. Man schaut weg, weiß dem NICHTS – im Gegensatz zum ZUVIEL – nichts entgegenzusetzen. Mit Magersucht weiß die Überflussgesellschaft nicht umzugehen.

Mann – noch ein Tabu-Bruch

So ähnlich erfuhr und erfährt es auch Christian Frommert, der mit seinem Buch „Dann iss halt was! Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe“** an dem Tabu rüttelt, dass Männer gegen Magersucht gefeit seien. Er war es nicht, und es erwischte ihn auch nicht in der Pubertät, sondern im Alter von Ende 30. Er, Jahrgang 1967, war schon „ein gemachter Mann“: erst Redakteur Frankfurter Rundschau, dann Kommunikationschef beim T-Mobile Team (er verkündete 2006 Jan Ullrichs Aus im Radsport vor Mikrofonen und Kameras). Er macht auch kein einschneidendes Ereignis für seine Hungerspirale verantwortlich.

   Bei 1,84 m Körperlänge nur noch 39 kg zu wiegen – da hätten doch schon vorher viele Alarmglocken klingeln müssen. Haben sie auch! Nur es ist krankheitsimmanent, dass der Magersüchtige dafür blind und taub ist. Die Krankheit beherrscht ihn, nicht er sie. Auch bei Christian Frommert kommt der Wendepunkt – wie bei Louise Jacobs – zu einem unvermuteten Zeitpunkt, nämlich, als es um eine ganz andere Erkrankung geht, wobei er krass an die Endlichkeit und damit Kostbarkeit des Lebens erinnert wird. Dass er knapp vorm Organversagen stand wegen seines Untergewichts, hatte ihn (noch) nicht hinlänglich wachgerüttelt.

    Googelt man nach Frommert, kann man sofort eine Reihe von Interviews aufrufen. Stellvertretend sei hier das im STERN genannt > „Eine Geliebte, die man nicht los wird“  stern.de/1982421.htmlDer Journalist will dieser Krankheit eine Stimme geben und schont sich dabei selbst nicht. Seine Kollegen sprangen prompt darauf an. Doch alle wissen, dass das Interesse bald wieder abflaut und dass mit einer einzigen Welle, die das Thema nun in die Öffentlichkeit gespült hat, die Sensibilität gegenüber der an Anorexia erkrankten Menschen noch lange nicht hinreichend geweckt ist.

Schwebezustand mit Todesnähe

Auch Christian Frommert war in der SWR-Leute-Sendung (http://url9.de/CK8). Im Vergleich zu dem Gespräch zwischen Moderator Stefan Siller und Luise Jacobs fehlte dem Mann-zu-Mann-Austausch Siller/Frommert manchmal das Geländer, weil es hier in einem reifen Alter um Intimes ging, vor allem um etwas Unausgestandenes. Es geht um einen Schwebezustand, bei dem es sinnlos ist, zu analysieren oder gut zuzureden oder einen Willen aufzuzwingen. „Dann iss halt was!“, entfuhr es Frommerts Mutter gelegentlich. Wie hart Christian Frommert mit den schwer zu überwindenden Ritualen ringt, vermittelt das Interview bei Markus Lanz besonders anschaulich: http://url9.de/CJZ

Machbarkeitsglaube

Der Glaube ans Machbare durch Anstrengung und Disziplin verirrt sich hier in der Richtung. Feilschen mit sich selbst pro oder contra ein halbes Gramm Fett im Joghurt. Sport treiben bis zum Umfallen. Wir sind wieder nahe dran an der Doppelbödigkeit unserer Moral und unseres Leitsatzes, dass man es mit Leistungsdruck zu etwas bringen kann, auf das man letztlich stolz sein darf. So machen die Interviews mit Christian Frommert in vielerlei Hinsicht nachdenklich, gehen unter die Haut, erschüttern.

   Sein Buch hat er mit Jens Clasen (Textchef bei Men’s Health) verfasst. Es lässt uns ohne Moll-Töne der Krankheit ins Gesicht sehen und verdient dafür Hochachtung und Lob! Das kurze Vorwort von Fußball-Profi Oliver Bierhoff (Frommert ist sein Medienberater) betont, dass man trotz persönlicher Nähe zu einem Menschen mit Magersucht viel aus solch persönlichen Aufzeichnungen erfährt, das man vorher nicht einordnen konnte.

Man begreift: Magersucht hat grausame physische und psychische Folgen. Louise Jacobs schreibt der Magersucht sogar Züge von Schizophrenie zu: „Was einen einst ausgemacht hat, verschwindet, und etwas völlig Fremdes nistet sich im eigenen Körper ein.“ Als Empfehlung für Freunde/Weggefährten drängt sich auf: sich nicht „verbeißen“ lassen, denn Magersüchtige ziehen sich zurück, bauen aus Scham Mauern um sich auf und sind in ihrer Isolation den zerstörerischen Kräften ihrer Krankheit unglaublich stark ausgeliefert. Zu allem Elend kommt noch, dass es keine „komfortablen“ Wege für den Genesungsprozess gibt.  

* Knaur Verlag, 335 Seiten, 2013, 19,99 €, ISBN 978-3-426-65523-8

** Mosaik, 320 Seiten, 2013, 19,99 €, ISBN 978-3-442-39246-9

14.5.2013 Thema “Sucht” bei Maischberger (ARD), es diskutierten u. a. eine Essüchtige, Christian Frommert und Prof. Michael Musalek als Experte: http://mediathek.daserste.de/sendungen_a-z/311210_menschen-bei-maischberger/14672054_geliebte-gehasste-sucht-warum-werden-wir

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