Mai 03 2018
Einen Pudding an die Wand nageln und Wahlfreiheit zwischen Qualitätssegmenten
Von einem Extrem ins andere – kennen Sie das? Kaum hatte ich über die missliebigen grünen Socken geschrieben, konnte ich sie entsorgen. Und eine ganze Reihe weiterer dazu. Festhalten und loslassen – dies charakterisiert viele Prozesse im Leben. So auch das Schreiben. Juli Zeh definiert das auch in „Treideln“. Diesen wirklich mitreißenden Briefroman erwähnte ich bereits im Posting am 15. März. Unter dem Titel TREIDELN sprach die Schriftstellerin im Sommersemester 2013 an der Frankfurter Goethe-Universität als Gastdozentin über Bedingungen und Grundlagen ihrer literarischen Arbeit – und versuchte dabei, eine »Anti-Poetologie« zu entwerfen.
Gekonnt lotet sie sowohl Alltägliches als auch Extreme aus – und liefert damit nicht zuletzt eine scharfe Satire auf den Literaturbetrieb. Das Thema „Qualität“ kocht auch dort häufig hoch – doch auf welche Definition mag man sich dafür einigen? Was passt in welches der gängigen Bezugssysteme, welchen Wandlungen sollte dieses unterzogen werden, um sie dem Zeitgeist anzupassen? „Treideln“ lehrt, neu nachzudenken über die Welt der Schriftstellerei und Veröffentlichungen und allem, was damit zusammenhängt. Mich erinnert dieser Anstoß im positiven Sinne an die Metapher „einen Pudding an die Wand nageln“, die gerne für Qualitätssicherung im Journalismus gebraucht wird. Obwohl das Sujet schwer zu fassen ist, muss man sich immer wieder neu nähern, es beleuchten und neuen Horizonten eine Chance geben.
Apropos Horizonte. Ich habe meiner Sparsamkeit ein Schnippchen geschlagen und neue Socken in der Schweiz gekauft. Das schlagende Argument war: Qualität. Und sofort drängt sich die Frage auf, warum ich im benachbarten Alpenstaat grundsätzlich mehr Qualität voraussetze als in Deutschland. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Schweizer nicht nur einzigartig leckere Schokolade zu kreieren verstehen, sondern auch der abgepackte Salat dort wesentlich frischer ist und besser schmeckt als unsere Grün-Mischungen in der Tüte. Auf diese beiden Beispiele will ich mich beschränken, obwohl ich noch mehr anführen könnte.
Mit dem höheren Verdienst und den höheren Preisen kann das nichts zu tun haben. Denn auch in Deutschland gibt es Besserverdienende, die vor dem gleichen Salat- und Schokolade-Regal im Supermarkt stehen wie ich und keine Wahl haben, jene stolze Qualität wie in der Schweiz zu erwerben. (Vielleicht im Exquisit-Geschäft, aber das zeugt nur davon, dass die Allgemeinheit nicht so bedient wird wie die Basis-Kundschaft in der Schweiz.)
„Die Wahl haben“ – das scheint mir ein sehr wichtiges Qualitätsmerkmal. Ich meine jetzt nicht zwischen 25 und 50 Müsli-Sorten (90 % mit ähnlich fragwürdig hohem Zuckeranteil), sondern zwischen echten Qualitätssegmenten. Ich brauche nicht zehn Zeitungen nach dem gleichen Muster, sondern bevorzuge es, mich zwischen fünf (sehr) unterschiedlichen entscheiden zu können. Oder nehmen wir das Gesundheitswesen. Aktuell ärgern sich viele Menschen darüber, dass sie nicht von dem 4-fach-Impfstoff gegen Grippe erfuhren, der bei uns normalerweise Privatpatienten vorbehalten ist. Es ist nicht zu quantifizieren, wie viele Kassenpatienten gerne etwas zugezahlt hätten, um sich die schlimme Grippe zu ersparen. Aber wer nicht weiß, dass ihm etwas vorenthalten wird, kann danach auch nicht fragen.
Stellen Sie sich vor, Sie gehören zu den Bescheidwissern über die Unterschiede, die Sie gegenüber der Kundschaft verschweigen, schönreden oder gar abstreiten (müssen) – wie kämen Sie mit ihrem Gewissen zurecht? Was sagt Ihr Qualitätsbewusstsein und Ihre Menschenfreundlichkeit dazu? Sie müssen doch vorausschauend wissen, dass Sie eines Tages auffliegen – wie zum Beispiel die Verantwortlichen von VW, die jetzt wegen des Abgasschwindels angeklagt werden – und gefragt werden, warum Sie ihr Herrschaftswissen nicht für die Verbraucher, sondern lediglich zugunsten einer schmalen Elite eingesetzt haben.
Tja, das ist dann ebenfalls wie einen Pudding an die Wand nageln, wenn man hier auf Antworten besteht. Denn im Ausweichen müssen diese Menschen mit dem verheimlichten Wissensvorsprung ja geeicht sein, immer bemüht, ihre Haut zu retten. Es widerspricht der Achtung vor der Menschenwürde, ihnen gegenüber Nachsicht walten zu lassen. Was sie uns zugemutet, ja angetan haben, hat Spuren gezeitigt. Loslassen sollten wir in diesem Fall die Bescheidenheit und die Trägheit, mit der wir schon eh viel zu lange vieles hinnehmen, das einer Änderung bedarf. Nur darüber klagen, dass niemand mehr protestierend auf die Straße geht, hilft nicht. GEHEN!
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