Mai 20 2021
Auf der Höhe der Zeit
Der “Tag des Fremdworts” (heute) erinnert daran, dass die Welt noch nie einfach und leicht durchschaubar schien und man sich zu jeder Zeit adäquat ausdrücken musste. adäquat = angebracht, angemessen, entsprechend, geeignet.
Der Tag erinnert mich aber auch daran, dass ich früher Menschen bewunderte, die gerne und viele Fremdworte verwendeten. Das verhieß einen gewissen Grad an Bildung, der als erstrebenswert galt.
Doch bald offenbarte sich hier ein zweischneidiges Schwert. Manche Menschen benutzten Fremdwörter, um unter sich zu bleiben, als eine Art Ausweis für ihre Zugehörigkeit zu einer Kaste. Kasten waren aber doch abgeschafft, oder?
Wenn ich als junge Volontärin einen Artikel geschrieben hatte und er klang kompliziert, durfte er nicht in die Technik zur Weiterverarbeitung (wir tippten die Manuskripte an manuellen Schreibmaschinen auf Papier), bevor ihn unsere Raumpflegerin abends gegengelesen hatte. Ihre Berufsbezeichnung hieß damals noch “Putzfrau”. Und erst wenn sie den Text verständlich fand, durfte ich ihn in den Satz geben. Dann war ich stolz darauf, die richtigen Worte gefunden zu haben. Korrekturen waren manchmal nötig und fielen dank ihres “Feedbacks” leicht. (Wer sagt eigentlich heute noch “Rückmeldung”?)
Unvermeidlich bin ich inzwischen auch in die “Kaste” gerutscht, in der munter Fremdwörter verwendet werden. Dennoch tut diese Prägung mit dem Stichwort “Putzfrau” weiterhin ihre Wirkung. Ich schlage öfter nach, wenn ich bei einem Fremdwort zögere (oder stolpere), weil ich entweder a) seine Bedeutung nur “so ungefähr” weiß und/oder b) es doch lieber so ausdrücken möchte, dass das Fremdwort überflüssig wird.
Oft genug kämpfe ich mit der Einsicht, dass es einer “Umstandskrämerei” gleicht, alles “übersetzen” zu wollen. Aber die kritische Selbsthinterfragung, wann etwas Imponiergehabe, unreflektierte Routine oder zu hohem Grad notwendig ist, schärft meine Auseinandersetzung mit der Sprache laufend. Eine Leidenschaft, mit der ich gerne andere Autor:innen anstecken möchte. Transparenz wird allseits reklamiert und ist ein Grundstein der Demokratie. Wie eine hoch angesehene Tugend, die als Leitmotiv verfolgt: “Auf der Höhe der Zeit und dennoch verständlich bleiben.”
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