Okt 29 2012

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …

Autor: . Abgelegt unter Alltag

 … dass ich so nachdenklich bin. Das Lied von der Loreley* ist mir zwar im Zug nicht eingefallen, aber die Melodie summe ich jetzt beim Tippen, damit die Widersprüchlichkeiten lieblicher werden. Es geht um Egoismus, Zivilcourage, Provokation. Diese Stichworte fallen mir als erstes zu folgender Szene ein:

Sonntagabend, viele Reisende auf dem Bahnsteig. Der Zug –  es ist ein „Doppeldecker“ – kommt zehn Minuten zu spät und scheint voll zu sein. Manche Fahrgäste ziehen es vor, gar nicht erst nach einem Sitzplatz zu suchen, sondern setzen sich auf die Treppe. Mit rücksichtsvollem Balancieren kann man über sie hinwegsteigen. Freude: auf dem oberen Deck sind vereinzelt noch Plätze frei. Doch gefühlte 85 Prozent davon sind mit Gepäckstücken belegt.

Die Eigentümer der Gepäckstücke nehmen die Fahrgäste nicht wahr, die durch die Reihen gehen, um sich an geeigneter Stelle niederzulassen (geschweige denn jene, die mit der Treppe vorlieb genommen haben). Man müsste sie schon direkt ansprechen, ob der Platz frei ist. Aber halt! Ist das nicht eine Farce? Du fragst, obwohl du siehst, dass der Platz von Rücksack oder Tasche besetzt ist. Kann man das wagen? Oder ist man angesichts dieser Situation gehalten, sich nach einem Platz ohne thronendes Gepäckstück umzusehen?

Die Fragen purzeln in dieser Situation nur so durcheinander:

Ist es so asozial, wie ich es empfinde, dass die Gepäckabsteller die Wahlfreiheit zwischen den wenigen Sitzplätzen willkürlich und unnötig einschränken, obwohl auf der Ablage über ihrem Kopf noch jede Menge Stauraum ist? Oder ist es normal, erst Platz zu schaffen, wenn man darauf angesprochen wird? Oder fühlt man sich provoziert, dass ausgerechnet jener Platz begehrt wird, auf dem die Tasche steht, wo doch anderswo sicherlich auch noch frei wäre? Ist es ein Risiko, indirekt die Räumung des Platzes mit der unschuldigen Floskel „Ist hier noch frei?“ zu verlangen (im Hinblick auf verbale Entgleisungen oder Schlimmeres)?

Ist es ein „Generationsproblem“ (“jugendlicher Leichtsinn”), sich unbekümmert so viel Platz zu nehmen, wie es gerade möglich ist? Wird erwartet, in die Schranken verwiesen zu werden, wenn dies der Gemeinschaft abträglich ist bzw. dies jemandem nicht passt? Heißt das, dass Selber-Denken und Umsichtig-Sein nicht freiwillig und aus innerer Haltung heraus geschieht, sondern nur aufgrund von Rückmeldungen oder Reklamationen?

Früher hätte ich gefragt, hätte etwas gesagt. Heute bin ich vorsichtig. Obwohl ich den Slogan „Nicht wegsehen“ vom Weißen Ring unterschreibe und unterstütze. Sie kennen das Symbol von dem Vogel namens Strauß, der den Kopf in den Sand steckt. Genau damit tut man niemandem einen Gefallen!

Bescheiden ziehe ich mich zurück auf einen Platz, auf dem es viel enger ist als gegenüber dem Pärchen, das harmlos aussieht und ein bisschen turtelt und die Bank gegenüber mit Gegenständen besetzt hält. Ein wenig nagt die Frage: Ist meine Vorsicht klug oder bin ich feige geworden? Denn wenn ich mein Ausweichen als Geste der Großzügigkeit empfinden würde, bräuchte ich weder grübeln, geschweige denn so viele Worte über die Angelegenheit verlieren. Es bleibt dabei: Ich weiß nicht was soll es bedeuten …

* Bei der Lorely heißt es freilich “… dass ich so trauaurig bin”. Traurig fühle ich mich aber nicht, sondern ratlos und – wenn ich es sehr kritisch nehme – unbeholfen.

2 Kommentare

2 Kommentare to “Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …”

  1. Sabine Pendlam 29. Oktober 2012 um 11:43 1

    Oh ja, ich kenne solche Gedanken. In allen Farbtönen. Von: “Was für eine Frechheit – wie schlecht ist doch die Welt” auf der einen Seite über – wenn ich grad ganz in Harmonie mit mir und der Welt bin – gar nicht wahrnehmen bis hin zu: “Die sind bestimmt auch müde, steigen gleich wieder aus, haben einfach nicht bemerkt, wie voll es ist” usw…

    Ich habe mir abgewöhnt, in solchen Situationen nach “der” richtigen Reaktion oder “dem” richtigen Gedanken zu suchen. Ich lass es raus, wie es kommt.

    Mal gereizt: “Ich würde mich hier gerne hinsetzen!”, mal freundlich: “Ist es ok, wenn ich den Rucksack mal eben da hochstelle”, mal ironisch: “Der Zug ist ganz schön voll heute, ne”…und manchmal kommt gar nix und ich setze mich zur Not auf den Boden.

    Ich vermute, die Gründe der Leute sind ebenso unterschiedlich wie die gefühlten Reaktionen. Es sind nicht alle Egoisten, es sind aber auch nicht alle müde oder gedankenversunken…

    So ganz grundsätzlich: Wir Deutschen – oder Nordeuropäer – machen es schon ganz gut. Unser Gemeinsinn ist recht ausgeprägt…wir räumen schon recht bereitwillig anderen einen Platz frei.

    Manchmal aber ist der “Gemeinsinn” zu ausgeprägt, wenn man zu sehr ins Mäkeln und Erziehen fällt. (Ich wurde mal nach um zwölf in einem ausgestorbenen Vorort von einem Hundegassigeher angepöbelt, weil ich kurz auf einem Zebrastreifen gehalten hatte…)

    Dennoch schätze ich das an uns … das wir tendenziell auf sowas achten.

    Es ist alles immer ein Balanceakt; weswegen ich balancierend mal so, mal so reagiere; mal rotzig und mal einfach an was Schönes denke und befinde, dass das letztlich alles nicht so wichtig ist. 🙂

  2. Sabine Pendlam 29. Oktober 2012 um 12:00 2

    PS: Zugegebenermaßen passiert es meistens dann, wenn ich die “an etwas Schönes denken” Lösung wähle, dass mich jemand freundlich anguckt und dann lächelnd den Platz freimacht.
    Dafür hat die rotzige Lösung manchmal was kathartisches…;-)

    Und nochmal auf eine ganz allgemeine Ebene gehoben:

    In vielen anderen Ländern dieser Welt stehen Freunde und Familie im Vordergrund – alle anderen sind eher unwichtig.

    Bei uns ist manchmal “die Gesellschaft” wichtiger als die “Allernächsten”. Weswegen wir überhaupt so ein ausgeprägtes Gespür für vollgeräumte Plätze oder das Halten auf Zebrastreifen haben.

    Ich habe dieses Gespür mit der Zeit, wie gesagt, zum einen bewusst wahrnehmen, zum anderen schätzen gelernt.
    (Deswegen sind wir im Vergleich nicht sehr korrupt, deswegen schmeißen wir unseren Müll nicht auf die Straße oder nur selten, usw…)

    Mein Ideal ist aber eine Lösung, die beides vereint – den Gemeinsinn und die direkte Zwischenmenschlichkeit.
    Ich meine, dieser Zwischenlösung dort am nächsten zu sein, wo ich am ehrlichsten mit mir und meiner Umwelt bin – und die dann an meiner Gereiztheit auch mal teilhaben lasse. Grundsätzlich aber ist das Bedenken mit schönen Gedanken wohl noch vorzuziehen.
    So irgendwie.

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